US - "Kompromiss" Wie hätte er bei einem Verhältniswahlrecht ausgesehen?
von cc am 01.08.2011

Es ist zu früh, ein genaues Urteil über den US-Budgetkompromiss zu fällen aber eines springt schon jetzt ins Auge:
Enormen Einsparungen (natürlich auch im Gesundheits-Sozial und Umweltbereich) stehen keinerlei Steuererhöhungen der Wohlhabenden gegenüber.
Das Ziel der Republikaner war klar: Präsident Obame so stark wie möglich zu beschädigen, und sein Gesundheitsprogramm zurückzustutzen.
Was ich heute betonen will:
Diese unfassare Blockade hat ursächlich etwas mit dem Wahlrecht zu tun.
Anders formuliert: Das kommt heraus, wenn man sich für ein Mehrheitswahlrecht entscheidet.
Da bleiben dann meistens bloss zwei (ganz selten wie in GB drei) Parteien übrig, die einander blockieren wie wir es in Österreich von rot-schwarz kennen.
Stellen wir uns kurz vor: Die USA hätten ein Verhältniswahlrecht, wie in den meisten europäischen Staaten.
Dann gäbe es Liberale, Grüne, gemäßigte wie extreme rechte Parteien, Sozialdemokraten, jedenfalls nicht "nur" zwei.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es dabei zu einem derartigen sozial ungerechten Sparprogramm gekommen wäre, ist minimal.
Es hätten sich Abgeordnete verschiedener Lager gefunden, die wahrscheinlich ihre Interessen eingefordert hätte, es hätte Kompromisse gegeben, die aber viel eher dem entsprochen hätte, was die US-Bevölkerung möchte.
Das, was jetzt herausgekommen ist, entspricht mit Sicherheit nicht einem breiten Interesse der Bevölkerung.
Wenn auch bei uns das nächste Mal wieder irgendwer ein Mehrheitswahlrecht fordert, sollte er sich auch diese Situation vor Augen führen.
Naja...
Dem zweiten Teil stimme ich aber keinesfalls zu. Ich denke, dass dies viel zu verkürzt argumentiert ist. Vergessen wir nicht, dass die Republikaner zu rund 50% von der amerikanischen Öffentlichkeit gewählt werden. Mit anderen Worten: eine "Partei", die so offensichtlich den Staat und seine Bürger (sogar die eigenen Wähler!) schädigt, eine Partei die Fakten nicht nur ignoriert sondern lächerlich macht, wird nicht von 5, 10 oder 20 – nein von 50% der Bürger gewählt. Das ist schon beachtlich.
Weiters: Meiner Kenntnis nach liegt das Problem nicht in erster Linie am Wahlrecht, jedenfalls nicht am Mehrheitswahlrecht. Denn dieses sollte ja gerade garantieren, dass die Partei die gewählt wird auch entscheiden kann. Durch das System in den USA kommt es aber zu einer Spaltung in den verschiedenen politischen Einfluss-Sphären: Präsident, Senat usw. Erst dadurch kommt die Patt-Situation zustande.
Ich möchte nicht sagen, dass das Mehrheitswahlrecht unbedingt der Weisheit letzter Schluss ist, aber ich denke, dass es hier die spezifische (archaische) Implementation ist, die die Probleme verursacht.
Und blicken wir doch bitte einmal in unseren eigenen Schrebergarten. Das österreichische Wahlsystem führt sein mehr als 20 Jahren zu Stillstand durch gegenseitige Blockade der zwei "Groß"parteien, und dem steten Wachstum einer rechten Fraktion, deren intellektuelle Leistungen den sofortigem Beitritt in die Tea-Party Bewegung nahelegen würde.
(über die Grünen und deren Probleme in Österreich möchte ich mich hier nicht äußern, das ist wieder ein anderes Thema).
@ alexander
Das ist mein Punkt!
Gäbe es die Vielzahl der Parteien & Kandidaten wie in Europa, sähe das US Parlament ganz anders aus.
Oder wie erklärst Du Dir, dass derart extreme Positionen (und das ist jetzt fast beschwichtigend ausgedrückt) wie jene der Tea Party, welche dem Bedürfnis weiotester Teile der US Bevölkerung widersprechen, so stark vertreten sind.
Bei US Kongresswahlen hast du realistischerweise bloss die Auswahl zwischen zwei Personen. Das halte ich für einen grundsätzlichen Fehler.
@cc
Vielleicht meinst du, dass diejenigen, die die Demokraten nicht wollen keine andere Alternative haben als Republikaner zu wählen. Das mag sein. Andererseits erklärt es die Wahlergebnisse immer noch nicht. Nochmals: mindestes seit Ronald Reagan steht die republikanische Politik für eine Politik der Superreichen. Die Mittelschicht und die "Unterschicht" verliert systematisch. Es mangelt auch nicht an Infografiken und einfach geschriebenen Artikeln um das zu verstehen (wenn man es verstehen will).
Oder bleiben wir beim derzeitigen Konflikt. Das Fehlverhalten der Republikaner stinkt, bildlich gesprochen, zum Himmel. Warten wir die nächsten Wahlen ab: wenn die Wähler auch nur irgendwie rational entscheiden, müssten die Demokraten bei allen Wahlen in nächster Zukunft deutlich gewinnen. Meine Vorhersage ist aber eher, dass das Gegenteil passieren wird, und Obama möglicherweise nichtmal eine zweite Legislatorperiode schafft; jedenfalls wird es knapp werden. Meiner Vermutung nach. Warten wir es ab.
Ich denke also: würden die Wähler rational, oder auch nur nach eigenem Vorteil wählen, hätten die Demokraten in den letzten Wahlen immer klar gewinnen müssen. Auch bei diesem Wahlsystem. Und nochmals: wir haben in Österreich ein anderes System und trotzdem wählen tatsächlich im Augenblick fast 30% Strache. Was ist der Schluss? Warum ist unser Parlament besser? Weil wir zwei sich blockierende Parteien und einen Strache haben?
Ich denke, es hat viel mehr mit den Medien und der Kommunikation, sowie dem Diskurs in der Öffentlichkeit zu tun. In den USA dominiert Fox und dergleichen die "Unterschichten", bei uns Krone, Österreich und Heute. Und was wir erkennen ist eine klare Korrelation zwischen den (rechten) Präferenzen dieser Medien, der Ignoranz von Fakten und der darauf folgenden Politik. Wir haben heute Systeme implementiert, die ungeheuer geschickt, getrieben von Partikularinteressen (z.B. großer Industrien oder ideologischer "Thinktanks") ehemalige Medien instrumentalisieren und zu de facto Propagandainstrumenten umfunktionieren. In den USA ist das am deutlichsten zu sehen, z.B. bei Steuerdiskussionen, "Klimaskepsis" in Fox und Co, Aussenpolitik, Schulsystem, Strafverfolgung usw. Aber natürlich finden wir das bei uns in kleinerem Masstab wieder.
Mein (stark verkürztes) Plädoyer daher: vergiss das Wahlsystem, das ist (relativ) irrelevant. Das Problem liegt in der politischen und sachlichen Bildung der Bevölkerung und in der Kommunikation der Politik mit der Bevölkerung. Solange ein derartig verzerrtes Bild die Realität der meisten Menschen bestimmt und man den Eindruck hat, vor den Kulissen findet etwas *völlig* anderes statt als hinter den Kulissen haben wir ganz andere Probleme. Auch in der Rolle und Wahrnehmung, die ein Politiker haben sollte und tatsächlich vermittelt.
Ich hätte hier noch einiges mehr zu sagen, aber mir geht die Luft aus :-)